Bedenken gegen die Verlängerung des Mandats für "Enduring Freedom" in Afghanistan
08. Nov 2006
Offener Brief an die Fraktionen im Deutschen BundestagStellungnahme zur Abstimmung des Deutschen Bundestags am 10.11.2006 über die Verlängerung des Mandates für Enduring Freedom in Afghanistan
Bad Vilbel, den 08.11.2006
Sehr geehrte Damen und Herren,
Vor der Abstimmung zur Verlängerung des Afghanistan-Mandates zu "Enduring Freedom" wende ich mich an Sie in der großen Sorge, dass der Bundestag - statt eine klar "exit"-Strategie politisch zu entwerfen, Deutschland immer tiefer in einen Kriegseinsatz in Afghanistan führt. Die deutsche Sektion hat namens ihrer Bundesdelegiertenversammlung im November 2005 einen klaren Abzugsplan der Bundeswehr aus Afghanistan gefordert und wird dies sicherlich am nächsten Wochenende nochmals verstärken. Wir fordern eine Dialog- und Abzugsstrategie und sehen durchaus Ansätze dazu.
Die Agentur Reuters meldete kürzlich: "Die Taliban lehnen Gesprächsangebot ab."
Die Taliban haben am Samstag ein Gesprächsangebot der afghanischen Regierung ausgeschlagen. Sie wollen ihren Kampf fortsetzen. "Die Ungläubigen aus der gesamten Welt haben sich in Afghanistan versammelt, das Land besetzt und die Afghanen als Geiseln genommen", sagte ein Sprecher des flüchtigen Taliban-Anführers Mullah Omar. Es könne keine Gespräche mit der afghanischen "Marionetten-Regierung" geben, solange ausländische Truppen in Afghanistan seien. "Ebensowenig werden die Mujahedin ihre Waffen niederlegen", sagte er. Präsident Karzai müsse sich zunächst selbst aus der Sklaverei der ausländischen Truppen befreien, bevor es zu Gesprächen mit den Taliban kommen könne. (NZZ, Montag, 30.10.2006)
Zwar ist das keine gute Nachricht, aber sie informiert immerhin darüber, dass es in Afghanistan inzwischen Gesprächsangebote an die Taliban gibt, eine Tatsache, die die westlichen Medien gern unterschlagen. Von ihnen werden Al Kaida und Taliban seit Beginn der US-geführten Afghanistan-Invasion unzulässig vermengt. Es wird außer Acht gelassen, dass es sich im einen Fall um eine international agierende Terrororganisation, im anderen um eine islamisch-konservative, in traditionellen Stammesstrukturen verankerte Widerstandsbewegung handelt, eine von mehreren gegeneinander streitenden Parteien im Land. Im Gegensatz zu den Drogenbaronen der ehemaligen Nordallianz werden Taliban und Mujahedin aber nicht als Verhandlungspartner im afghanischen politischen Diskurs akzeptiert. Entsprechend verwischt sich die Trennung zwischen Terrororganisation und vom Westen zuvor aufgerüsteten Fundamentalisten, vogelfrei sind sie alle zusammen. Die verhängnisvolle Grundorientierung der US-geführten "Enduring Freedom"-Operation besteht geradezu in einer symptomatischen Rache- und Vergeltungslogik des Anti-Terror-Kampfs, der sich diffus gegen jedwede Art von Widerstand richtet. Al Kaida-Terroristen, Taliban und Mujahedin werden dabei mit zunehmender moralischer Skrupellosigkeit nur noch als zu eliminierende Gegner, nicht mehr als, wenn auch feindliche, menschliche Gegenüber gesehen. So werden Tötungen von Taliban-Kämpfern konsequenterweise regelmäßig als Erfolgsmeldungen verkündet. In diesen Zusammenhang ist auch die in einer verfassungsrechtlichen Grauzone agierende deutsche Sondereinheit KSK zu stellen, die an genau diesen sich durch die perversesten Formen des Tötens auszeichnenden Kampfhandlungen beteiligt ist.
pax christi erhebt gegen diese entmenschlichende Kriegspraxis und -propaganda entschiedenen Einspruch. Angesichts der bei der Bundestagsdebatte über die ISAF-Verlängerung zutage getretenen Ratlosigkeit fordern wir eine politische Initiative mit dem Ziel der Aufnahme von Verhandlungen auch mit dämonisierten Gegnern. Bereits 2003 wurde aus der deutschen Sektion eine Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen in Afghanistan, folgerichtig auch der Taliban, an einem grundlegenden und ausgleichenden Dialog über den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft gefordert. Dieser Dialog, für den laut der eingangs zitierten Reuters-Nachricht inzwischen offenbar doch Hoffnung besteht, erfordert aber tatsächlich die Einstellung der Kampfhandlungen der bisher unter "Enduring Freedom" operierenden Truppen und ihren sofortigen Abzug einschließlich des sofortigen Abzugs der deutschen KSK. Die inzwischen erfolgte Vermischung der Aufträge der ISAF-Truppen mit dem expliziten Kampfauftrag von "Enduring Freedom" schafft darüber hinaus eine politisch hochexplosive, zunehmend unkalkulierbare und völkerrechtlich besorgniserregende Situation. Es besteht nun die Gefahr, dass die deutschen ISAF-Truppen immer mehr in den US-geführten Krieg gegen den Terror hinein gezogen werden. Durch den gestrigen Wahlsieg der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus der USA wird diese Tendenz nach Ansicht von Karsten Vogt (SPD) eher noch zunehmen. Die internationale Truppenkoalition ist aufgefordert, Frieden, Staatsaufbau und Dialog zu fördern und sich so bald wie möglich überflüssig zu machen statt den Krieg zu intensivieren und eine politisch überfällige Exit-Strategie unmöglich zu machen.
Ein solches Hineinziehen wäre nach der gegenwärtigen Sachlage nur mit dem Abbruch der ISAF-Beteiligung und der sofortigen Rückführung des gesamten Bundeswehrkontingents aus Afghanistan zu verhindern. Auf diesen Eventual-Fall muss sich die Bundesrepublik Deutschland nicht nur intern vorbereiten, sie hätte diese Konsequenz auch mit der gebotenen Deutlichkeit innerhalb der Internationalen Gemeinschaft zu vertreten. Jedes "Peace Keeping" erweist sich als unmöglich, wenn das UN-Mandat zur Sicherung von Friedensprojekten in dieser Weise ausgehebelt wird. Nur durch eine Übertragung der Verantwortung für die Rechtssicherheit auf Organe, die die afghanische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit repräsentieren, wird nach fast 30 Jahren Bürgerkrieg eine Versöhnung und eine Lösung auch so brennender und destabilisierender Probleme wie der Drogenökonomie möglich sein.
Mit besorgten Grüßen
gez. Dr. Reinhard J. Voß
Generalsekretär